Die Gleichung »MS = Muskelschwund«, die auch gelegentlich als die Behauptung »Multiple Sklerose, die geheimnisvolle Muskelschwunderkrankung« oder ähnlichen Unsinn daherkommt, ist eine äußerst langlebige Falschinformation, die zum Beispiel von der Boulevardpresse immer wieder gerne verbreitet wird.
Multiple Sklerose (MS), auch bezeichnet als Encephalomyelitis disseminata (E.d. oder Enc.diss.), ist eine chronische Erkrankung des Zentralnervensystems, welches Gehirn und Rückenmark umfaßt. Das Zentralnervensystem ist aus »grauer« und »weißer« Substanz aufgebaut. Man kann sich den Aufbau etwa wie ganz viele Elektrokabel vorstellen, bei denen die Fortsätze der Nervenzellen (grau) von einer Schicht Markscheide oder Myelin (weiß) umhüllt werden. Bei MS handelt es sich, salopp ausgedrückt, um Beschädigung durch Lochfraß und anschließende Narbenbildung in dieser Markscheide. Da die Markscheide für die schnelle Weiterleitung von Nervenimpulsen zuständig ist, sind die Folgen dieser Schäden (=Läsionen) unter Umständen erheblich. Je nach Lage und Größe der Läsionen können die verschiedensten Körperfunktionen beeinträchtigt werden, und das bis hin zum Totalausfall.
MS gilt derzeit als Autoimmunerkrankung mit unbekannter Ursache und als unheilbar. Es werden mehrere Verlaufsformen unterschieden:
Es gibt MS-Betroffene, die immer oder bei schlechter Tagesform oder
für längere Strecken einen Rollstuhl benötigen oder
benötigt haben. Aber das ist nicht »die« MS. Es gibt ja
auch jede Menge andere Gründe, im Rollstuhl zu sitzen. Und es gibt
jede Menge MS-Betroffene, die weder Rollstuhl noch Gehhilfen
benötigen.
Verbreitete, für die Umwelt mehr oder weniger gut wahrnehmbare MS-
Symptome sind zum Beispiel:
Ausserdem gibt es Symptome, die für Andere nicht oder kaum erkennbar sind und die Betroffenen oftmals in den Verdacht bringen, Simulanten zu sein, wie beispielsweise:
Dies sind nur Beispiele für geläufige Symptome, keinesfalls handelt es sich hier um eine auch nur annähernd vollständige Auflistung.
Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob MS zum Tod führt. Ich persönlich halte die Aussage, dass etwa zwei Prozent der Betroffenen irgendwann an MS sterben, für die glaubwürdigste.
Von rasanten und besonders tragischen Krankheitsverläufen, die glücklicherweise nur sehr selten vorkommen, einmal abgesehen, hat eine MS-Erkrankung eher wenige bis gar keine Auswirkungen auf die Lebenserwartung. Allerdings kann es leider sein, dass bei schwerstbehinderten Betroffenen durch weitgehende Bewegungsunfähigkeit Folgeerkrankungen auftreten, die u. U. ihrerseits irgendwann zum Tod führen können.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, möchte ich betonen, dass Todesfälle aufgrund der MS meist ohnehin im hohen Lebensalter stattfinden. Jedoch gelten Läsionen in der Nähe des Atemzentrums als besonders kritisch...
Krankheitsschübe werden schulmedizinisch mit hochdosierten Cortison-
Stoßtherapien behandelt, was die akuten Symptome im Idealfall rasch zum
Abklingen bringt. Außer der Schubbehandlung rückt man der MS mit
Immunsuppressiva (z. B. Imurek), Immunmodulatoren (Interferon beta,
Copaxone) oder Chemotherapie (Mitoxantron) zuleibe. Auch Immunglobuline
werden mitunter an Betroffene verabreicht.
Ausserdem gibt es
Ansätze, den Krankheitsverlauf mit besonderen Ernährungsformen,
Enzympräparaten oder Homöopathie zu beeinflussen. Der Einsatz von
Cannabis soll viele Beschwerden lindern.
Heilung ist bisher nicht
möglich, wenn auch dubiose Geschäftemacher dies bisweilen
vorgeben.
Die im Alltagsgeschehen spürbaren Auswirkungen sind natürlich,
wie auch der Krankheitsverlauf, bei jeder/jedem Betroffenen anders. Nicht
umsonst ist oft die Rede von der »Krankheit mit den tausend
Gesichtern«. Wenn deutliche Behinderungen vorhanden sind, liegen die
entsprechenden Veränderungen diesbezüglich meist auf der Hand.
Häufig liegen aber weniger einleuchtende Handicaps stattdessen oder
zusätzlich vor. Viele der Betroffenen unterliegen mehr oder weniger
stark ausgeprägten Tagesschwankungen, was die Präsenz und die
Stärke der Symptome angeht. So kann es z. B. sein, dass jemand
wochenlang ganz gut »funktioniert«, aber dann plötzlich
eine Verabredung oder Einladung absagen muß. So etwas ist
zunächst (meistens ;-)) frustrierend für die/den Betroffene/n
und führt überdies nicht selten zu völligem
Unverständnis der Umwelt. Die entsprechenden Reaktionen lassen dann
nicht lange auf sich warten, wie etwa: »Er kann doch eigentlich
sonst alles machen, aber zu meiner Geburtstagsfeier kommen konnte er dann
komischerweise nicht!«. Auf diese Art zerbrechen leider immer wieder
- auch sehr alte - Freundschaften und andere Verbindungen. Solche
Belastungen haben MS-Betroffene zusätzlich zu verkraften. Dabei sind
sie selbst die Hauptleidtragenden dieser Unzuverlässigkeit ihres
Befindens, die jede Planung ein wenig fragwürdig werden
läßt.
Früher oder später sind die meisten
Betroffenen gezwungen, ihren Tagesablauf einer verminderten Belastbarkeit
und starken Ermüdbarkeit anzupassen. Dazu gehört unter anderem,
bei den täglichen Verpflichtungen ziemlich oft »fünf
gerade sein« zu lassen und auch vermehrt Hilfe in Anspruch zu
nehmen. Der Tagesablauf darf nicht mehr so viel »Programm«
enthalten, aber dafür genügend Ruhepausen. Damit tun sich wohl
vor allem diejenigen schwer, die keinerlei sichtbare Behinderung haben und
dann zumeist kerngesund aussehen. Gerade hier kommt es außerdem wieder
öfter zu problematischen Reaktionen der Mitmenschen.
Im Umgang mit
Freunden und Bekannten können ohnehin Veränderungen eintreten.
Eventuell ziehen sich manche, die für »gute Freunde«
gehalten wurden, erstaunlich schnell zurück. Andere kommen vielleicht
nicht damit zurecht, auf welche Art die Erkrankung die Persönlichkeit
der/des Betroffenen prägt, oder man hat sich aus demselben Grund
irgendwie nichts mehr zu sagen. Besonders tragisch (aber nicht allzu
selten) ist es natürlich, wenn dieses Problem in der Partnerschaft
auftritt.
Ansonsten ist es meist unerläßlich, sich verstärkt
an gewisse Unzulänglichkeiten zu gewöhnen, die mehr und mehr
Einzug in den Alltag halten können:
und so weiter, es handelt sich wieder nur um einige Beispiele, auch diese Liste könnte endlos fortgesetzt werden.
Die Diagnose ist hart, keine Frage. Der Zustand, den man gemeinhin als
»Gesundheit« bezeichnet, ist dahin. Unwiederbringlich. Dieser
Verlust muß erstmal verarbeitet werden. Das ist ähnlich wie der Tod
eines nahestehenden Menschen, nur mit dem Unterschied, dass hier ein Teil
der eigenen Person sozusagen »verstorben« ist. Spätestens
jetzt weiß man genau, was mit Kommentaren wie »Hauptsache, man ist
gesund« immer gemeint war...
Viele Neubetroffene sind von der
Diagnose, die leider auch häufig wenig einfühlsam
übermittelt wird, vollkommen verängstigt und malen sich die
schrecklichsten Dinge aus. Bei vielen kommen tatsächlich Gedanken
auf, das Leben sei nun zu Ende, oder sie seien plötzlich zu nichts
mehr nütze und nichts mehr wert.
Derartig destruktivem Gedankengut
kann ich nur heftig widersprechen, denn an MS zu erkranken bedeutet weder
das Ende des Lebens noch das Ende der Welt. Bei vielen Betroffenen wird
sich anfangs nichts oder nur wenig ändern. Und mit der Zeit kann man
durchaus lernen, sich mit den auftretenden Handicaps zu arrangieren. So
groß der erste Schock sicherlich ist: auch hier wird meist »nur mit
Wasser gekocht«. Genau wie vorher spielt das Leben Szenen in jeder
denkbaren Qualität, und es gibt noch reichlich schöne
Momente.
Ich persönlich würde es eher als »Neuanfang
unter verschlechterten Bedingungen« bezeichnen und nicht als Ende.
Das Leben geht ja unbeeindruckt weiter, auch wenn zunächst scheinbar
nichts mehr gültig ist von den bisherigen Werten und der
Lebensplanung. »Scheinbar« soll heißen, dass es nach der
Überwindung des Diagnoseschocks dringend ansteht, die Werte,
Pläne, Gewohnheiten usw. einmal (und in der Zukunft immer wieder
einmal!) genauestens auf ihre Gültigkeit zu überprüfen und
gegebenenfalls zu entrümpeln und zu erneuern. Schließlich wurde mit
der Diagnosestellung der Boden unter den Füßen fortgezogen, man muß
sich völlig neu orientieren, und da mag vielleicht so manches, das
immer selbstverständlich war, in das neue Leben nicht mehr recht
passen. Dafür können Dinge, die bisher unwichtig waren, jetzt
eine ganz andere Bedeutung erlangen.
Weiterhin bin ich der Meinung,
jetzt, da das »allgemeine Lebensrisiko« eine andere Dimension
angenommen hat, ist es viel wichtiger, im Hier und Jetzt zu leben. Nette
Gelegenheiten, das Leben zu genießen, sollte man wahrnehmen und auskosten,
anstatt mißmutig darüber zu grübeln, wie schlecht es einem in
zehn oder zwanzig Jahren wohl ergehen könnte. Für müßig
halte ich außerdem das »Nachklappen« nach dem Verfahren: wie
schön war das Leben früher, als ich noch dies, das und jenes
konnte, und jetzt...*seufz*. Nach meinen Beobachtungen neigen viel zu
viele MS-Betroffene dazu, sich das Leben auf die eine oder andere Art noch
zusätzlich zu erschweren. Hand aufs Herz: Braucht irgendjemand so
etwas wirklich?
© 2003 Jutta Albrecht Impressum